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"Ein Zukunftsmärchen" - ein Poetry Slam von Michelle Boschet

Michelle Boschet, 2025

 

Ein Zukunftsmärchen


Montagnachmittag, 16 Uhr, irgendwann im November, in ein paar Jahren. Draußen wird es langsam dunkel, der Regen ist fast Schnee und im Wartezimmer des örtlichen Hausarztes warten noch zwei Menschen – eine ältere Frau und ein junger Mann – darauf, endlich ihre exklusiven Minuten Zeit zu bekommen. Ein paar Minuten, in denen sie von ihrem Leid erzählen, auf Lösungen, ein bisschen Wärme und Verständnis hoffen.


„Warten Sie schon lange?“, fragt die ältere Dame.

„Dreiviertel Stunde“, sagt der junge Mann.

„Ach, das war schon immer so. Es dauert ewig…“

„... dafür, dass man meist nur ein Rezept und 5 Minuten Zeit bekommt, jaja“,
beantwortet der Mann den Satz.

Die Dame schluchzt:

„Wissen Sie, alt bin ich,
ich hab schon alles erlebt.
Und wissen Sie, krank bin ich,
aber nicht nur ein bisschen Kopfweh.
Ich hab den Krebs 2x besiegt,
er kam trotzdem ein drittes Mal,
und irgendwie versteht keiner,
was ich alles durchmach.
Die Familie sagt: ‚Kämpf weiter.‘ ´
Das Enkelkind weint: ‚Stirb nicht, Oma.‘
Der Arzt sagt: ‚Neues Medikament, probieren wir’s mal.‘
Und meine Freunde – ach, wissen Sie?
Im Alter wird man einsam.
Aber Kopp in Sand ist ja auch keine Option,
ich wünschte, ich wäre einfach gesund.“

Der junge Mann ist verwundert, dass sich die ältere Dame ihm öffnet. Da niemand sonst im Wartezimmer ist, tut er es ihr gleich:

„Wissen Sie, jung bin ich,
hab noch alles vor mir.
Und wissen Sie, krank bin ich,
aber nicht einfach Fieber.
Ich bin seit 10 Jahren traurig,
und nichts macht mehr Spaß.
Aber irgendwie versteht niemand,
was ich alles durchmach.
Die Familie sagt: ‚Lach doch mal.‘
Die Freundin weint: ‚Stirb nicht, Joshua.‘
Der Arzt sagt: ‚Es gibt jetzt neue Antidepressiva, probieren wir’s mal.‘
Und meine Freunde – ach, wissen Sie?
Traurig sein macht einsam.
Aber Kopp in Sand ist auch keine Option,
ich wünschte, ich wär einfach wieder froh.“

Die ältere Dame schaut den Mann an und lächelt. Er lächelt zurück.

„Wissen Sie“, beginnt die Dame erneut.
„Ich bin nicht hoffnungslos,
nur weil ich alt bin.
Ich will nicht sterben,
nur weil‘s vielleicht Zeit wär.
Ich will den Krebs verjagen,
vielleicht nochmal reisen,
aber an manchen Tagen,
wird mir einfach klar,
dass ich das alles
allein trage.
Ich will ja niemandem Krebs abgeben,
bin ja nicht verrückt,
aber jemand, der in meiner Situation
schon einmal war –
das fänd ich nett.“

Der Mann nickt.

„Wissen Sie“, beginnt er jetzt auch.
„Ich bin nicht hoffnungslos,
nur weil es sich so anfühlt.
Ich will nicht aufgeben,
nur weil mich alles zermürbt.
Ich will die Depressionen loswerden,
schöne Dinge erleben,
aber in manchen Nächten
wird mir einfach klar,
dass ich das alles
allein trage.
Ich will ja niemanden depressiv machen,
bin ja nicht verrückt,
aber jemand, der in meiner Situation
schon einmal war –
das fänd ich schön.“

*hust*

Die ältere Dame und der Mann drehen sich um und sehen, dass plötzlich ein junger Arzt in der Tür steht.

„Ich wollte Sie nicht unterbrechen, aber ich habe ein wenig zugehört. Ich bin seit kurzem Arzt hier in der Praxis. Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?“

Die beiden nicken.

„Wissen Sie“, beginnt er zu sprechen.
„Als Arzt kann ich erst mal
‘ne Menge machen.
Sie weiterschicken;
zum Kardiologen
oder Therapeuten.
Ihnen was verschreiben;
gegen Schmerzen
oder zum Aufputschen.
Ich kann Sie in ‘ne Reha schicken
oder in eine Klinik
oder Sie kommen immer her,
wenn’s Ihnen schlecht geht
und dann gucken wir.

Aber wissen Sie,
ein weißer Kittel
kann nicht alles.
Was Sie beide brauchen,
ist vor allem Verständnis.
Verbündete, Leidensgenossen,
Menschen, die die gleichen
Wege gehen mussten.
Und nicht nur 5 Minuten Zeit,
ein Rezept und eine Überweisung.

Mein medizinischer Rat?
Suchen Sie sich eine Selbsthilfegruppe.“

„Eine was?“, fragen der Mann und die Frau gleichzeitig.

„Eine Selbsthilfegruppe!
Für quasi jedes Thema
jede Krankheit, jede Lebenssituation
gibt es Gruppen, die sich treffen,
um sich verstanden und
weniger allein zu fühlen.“

„Und warum brauchen wir das?“, fragen der Mann und die Frau wieder gleichzeitig.

„Weil es wirkt.
Haben wir im Studium gelernt
und als Studis selber ausprobiert.
ie sagten beide selbst:
In ihrem Umfeld
versteht keiner wirklich,
wie es Ihnen geht.
Und auch ich als Arzt
hab zwar meine Themen,
aber weder Depressionen
noch Krebs.
Sie brauchen Authentizität,
was Echtes, Reales.
Und ganz ehrlich?
Betroffene wissen es oft
auch einfach wirklich besser als ich.“

Der Arzt drückt den beiden einen Flyer mit dem Titel „Selbsthilfegruppen“ in die Hand. Danach holt er beide nacheinander ins Sprechstundenzimmer.

Montagnachmittag, 17 Uhr, irgendwann im November, in ein paar Jahren. Draußen ist es schon dunkel, der Regen ist mittlerweile Schnee und im Wartezimmer des örtlichen Hausarztes wartet niemand mehr darauf, endlich seine exklusiven Minuten Zeit zu bekommen, in denen vom eigenen Leid erzählt werden darf und auf Lösungen, ein bisschen Wärme und Verständnis gehofft wird.

Dienstagabend 18 Uhr, irgendwann im November, in ein paar Jahren: Der junge Mann besucht zum ersten Mal eine Selbsthilfegruppe für Depressionserkrankte.

Mittwochmorgen 10 Uhr, irgendwann im November, in ein paar Jahren: Die ältere Dame besucht zum ersten Mal eine Selbsthilfegruppe für Krebserkrankte Ü70.

Beim nächsten Hausarztbesuch werden beide ihrem Arzt danken.

Wenn Selbsthilfe im Gesundheitssystem verankert wird, dann ist das hier in ein paar Jahren kein Text mehr - sondern Realität.